Obwohl es in der Kunst nicht unbedingt ungewöhnlich ist, ist es für den Betrachter doch immer wieder etwas Außergewöhnliches: eine Leinwand, die auf beiden Seiten ein Gemälde trägt. Ernst Ludwig Kirchner war einer der Künstler, die ihre Leinwände gern beidseitig benutzten. Die Kunsthalle Mannheim widmet diesem unter dem Titel „Doppelter Kirchner“ derzeit eine Ausstellung. Sie ist eine Kooperation des Kirchner Archivs in Wichtrach nahe Bern mit dem Kirchner Museum in Davos.
Immerhin sind bis heute ganze 138 Werke – alle doppelseitig bemalt – von Ernst Ludwig Kirchner bekannt. Der Expressionist teilte sich seine „Leidenschaft“ beispielsweise mit einigen Mitgliedern der Künstlervereinigung „Die Brücke“. Unter den „Leinwandwendern“ findet man bekannte Künstler wie Pechstein, Heckel und Karl Schmitt – Rottluff.
Warum Kirchner seine Leinwände auf beiden Seiten verwendete, hatte einen einfachen und heute durchaus ebenfalls gut nachvollziehbaren Grund. Es wurde ein Brief gefunden. In dem erklärte der Künstler, dass auch er sparen müsse. Das Material sei „sehr kostspielig geworden“, Gott sei Dank habe die Leinwand aber zwei Seiten. Dieser Satz mutet etwas ironisch an. Schließlich war Kirchner einer der Künstler, die bereits zu Lebzeiten für ihre Bilder hohe Preise erzielten. Er konnte also gut von der Malerei leben und dennoch zwangen ihn die Materialkosten zur Sparsamkeit.
Kirchner gilt als der passionierteste Künstler unter den Leinwandwendern. Viele Sammler und Museen, die ein Gemälde von Kirchner erwarben, konnten später hocherfreut feststellen, dass das zweite Bild auf der Rückseite im Preis inbegriffen war, sie also sozusagen zwei Bilder zum Preis von einem erworben hatten.
Den Ausschlag für die aktuelle Ausstellung gab die im Jahre 1910 fertiggestellte Restaurierung seines Werkes „Gelbes Engelufer, Berlin“. Auf dessen Rückseite wurde nämlich das vergessene Bild „Marokkaner“ wiederentdeckt, das auf ein paar Jahre früher datiert ist. In der Kunsthalle Mannheim kann man seit April 2014 beide Seiten dieses Werkes sehen. Ähnlich verhielt es sich beim „Akt im Atelier“, der gleichfalls aus dem Jahre 1910 stammt. Er befindet sich im Besitz des Städel Museums in Frankfurt. Auf dessen Rückseite verewigte Kirchner seine „Waldlandschaft“.
Die Ausstellung findet in fünf Räumen der Kunsthalle statt. Ansprechend präsentiert können Kunstinteressierte hier siebzehn Gemälde, genauer gesagt 34 Bilder, bewundern. Kirchner gilt als einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeigt solch großartige Werke wie „Gebirgslandschaft“ und „Liegende Frau in weißem Hemd“ von ihm. Die Gemälde werden in speziell gefertigten Rahmenkonstruktionen präsentiert. Dadurch hat der Besucher die Möglichkeit, die Werke problemlos von beiden Seiten zu betrachten. Bei einigen Bildern stimmen Vorder- und Rückseite im Format nicht überein. Sie werden in regelmäßigen Abständen automatisch herumgedreht. Die Kunsthalle möchte mit dieser speziellen Darstellung der Bilder auf die Problematik von beidseitig bemalten Werken hinweisen und eine sowohl kuratorische als auch wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema anstoßen.
Die Ausstellung verzichtet bewusst auf Wertungen. Darf man die eine Seite der anderen vorziehen und sie künstlerisch höher bewerten? Wem steht eine Bewertung der Bilder überhaupt zu? Der 1938 verstorbene Künstler kann die Wertigkeit nicht mehr vorgeben. Zahlreiche Bilder hat er überarbeitet und deklarierte bei zweiseitigen Gemälden als Hauptseite zumeist das später gemalte Werk. Ein eigenes Urteil können sich Interessierte in der Moltkestraße 9 noch bis zum 8. November 2015 bilden.
Bildquelle: © Dieter Schütz / Pixelio.de